Was versteht man unter Dyskalkulie?
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert im ICD 10 unter der Rubrik „Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten“ Dyskalkulie folgendermaßen:
„Diese Störung beinhaltet eine umschriebene Beeinträchtigung von Rechenfertigkeiten, die nicht allein durch eine allgemeine Intelligenzminderung oder eine eindeutig unangemessene
Beschulung erklärbar ist. Das Defizit betrifft die Beherrschung grundlegender Rechenfertigkeiten wie Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division, weniger die höheren mathematischen
Fähigkeiten.“ (ICD 10)
Allein schon die Einordnung der WHO – nämlich unter Entwicklungsstörungen – legt die Vermutung nahe, dass es sich bei der Dyskalkulie nicht um eine Krankheit handelt.
Der oben genannten Definition kann man entnehmen, dass das betroffene Kind bei den Grundrechenarten Verständnisprobleme hat. Das Kind kann möglicherweise einer Rechenoperation
keine inhaltliche Bedeutung beimessen, bzw. es hat keine konkrete Vorstellung von Zahlen.
Wichtig ist, dass sich die Probleme nur auf den mathematischen Bereich beschränken und sich diese Schwierigkeiten nicht aus grundlegenden intellektuellen Defiziten ergeben.
Zur Begrifflichkeit: Häufig wird die Bezeichnung Dyskalkulie synonym mit denen der Rechenstörung, Arithmasthenie, Akalkulie, Rechenschwäche oder Rechenschwierigkeiten verwendet.
Zwar gibt es zu jedem Begriff abweichende Nuancen im Erscheinungsbild, alle beschreiben im Groben aber das gleiche Problem.
Noch bis vor wenigen Jahren wurde davon ausgegangen, dass Dyskalkulie eine eher seltene Entwicklungsstörung sei. Allerdings haben Studien, die in mehreren Ländern durchgeführt
wurden, ergeben, dass etwa 3 bis 8,4 % der Bevölkerung davon betroffen sind. Mädchen und Jungen trifft es hierbei etwa gleich oft; bei anderen Entwicklungsstörungen sind häufiger die Jungen
betroffen.
Dyskalkulie tritt in vielen Fällen nicht isoliert auf, sondern in Kombination mit Legasthenie und/oder ADHS. Allerdings gibt es zwischen den verschiedenen Studien deutliche
Unterschiede, wie häufig diese Komorbidität tatsächlich auftritt.
Verschiedene Wissenschaftsdisziplinen haben sich mit dem Phänomen der Rechenschwäche befasst und für sich jeweilige Ursachenfaktoren abgeleitet. Einen groben Überblick hierüber gibt der folgende
Abschnitt (entnommen aus Lorenz, 1993).
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Aus der Psychodiagnostik:
Die Psychodiagnostik ist die Begründerin der Intelligenztests. Ursprünglich zur Auslese geeigneter Berufsanwärter entwickelt, später von Pädagogen übernommen, werden auch heute noch derlei
Tests bei fast allen Schullaufbahnentscheidungen einbezogen.
„Über die verschiedenen Intelligenzmodelle hinweg ist man sich einig, dass Faktoren wie Rechenfähigkeit, Raumanschauung, Kurz- und Langzeitgedächtnis und Sprachfaktorendazugehören. Innerhalb
des Intelligenztests dürfen aber die einzelnen Faktoren nicht miteinander zusammenhängen. Das bedeutet insbesondere, dass die Rechenleistung von den anderen Faktoren unabhängig sein muss.“
(Lorenz, S.18) Erst später wurde versucht, mittels zusätzlicher Tests zur Rechenfähigkeit einen Zusammenhang zu den übrigen Intelligenzfaktoren herzustellen. In der Psychodiagnostik ging es
aber nicht um die Entschlüsselung der Denkvorgänge beim Lösen einer Rechenaufgabe, denn es wurde nicht untersucht, wie die jeweilige Person die Aufgabe bearbeitete. Man blieb bei der
Feststellung der Unterschiede, die sich in den Tests ausdrückten. Der didaktische Nutzen ist demnach eher gering. Trotzdem ist es der Psychodiagnostik durch die Aufschlüsselung der
Intelligenz gelungen, einen differenzierten Blick auf die menschliche Fähigkeit zu werfen, Probleme zu lösen.
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Sonderpädagogische Ansätze zur Rechenstörung
Aufbauend auf dem psychodiagnostischen Ansatz entwickelte sich innerhalb der Sonderpädagogik eine Richtung, die sich mit der Erkennung lernschwacher Kinder befasste. Allerdings unterschied
die ältere Sonderpädagogik nicht zwischen einer allgemeinen und einer nur Teilbereiche betreffenden Lernbehinderung.
Eine Gruppe von sonderpädagogischen Autoren befasste sich in den siebziger Jahren mit verschiedenen, für das frühkindliche und für das spätere schulische Lernen wesentlichen
Fähigkeitsfaktoren. Sie sahen diese als Grundlage für die Entwicklung der visuellen Wahrnehmung, der Form-, Raum- und Zeitwahr-nehmung.
Hauptsächlich Faktoren wie die Störung des Körperschemas, visuo-motorische Integrationsstörung und räumlich-visuelle Erfassungs- und Vorstellungsschwäche wurden für die Entstehung einer
Rechenschwäche angenommen. Demzufolge versprach man sich durch heilpädagogische Übungsbehandlungen Erfolg. Die Rechenfähigkeit sollte sich dadurch wie von selbst verbessern.
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Aus Sicht der Neuropsychologie
Frühe Untersuchungen an rechengestörten Erwachsenen durch Neurologen und Psychiater sollten Aufschluss über die Funktionsweise des menschlichen Gehirns geben. Es wurden abgrenzbare
Gehirnbereiche gesucht, die für die allgemeinen kognitiven Fähigkeiten zuständig sein könnten.
Man wollte so die Existenz einen sog. Rechenzentrums erforschen.
Bisher konnte ein solches Zentrum nicht nachgewiesen werden. (vgl. hierzu auch Kapitel 2.b).
Giller beschreibt Rechnen vielmehr als „ein Denkakt, der in seinen Voraussetzungen und sprachlich-schriftlichen Ausdrucksformen Wahrnehmungen und Vorstellungen verschiedener Kreise
zusammenfasst und umfasst. Zu akustischen fügen sich optische, räumliche und motorische Vorstellungen.“ (Geller, 1952, S. 193)
Die neurologisch orientierte Sicht stellt die Dyskalkulie als „angeborene Schwäche (dar), bestimmte Entwicklungsstufen des Rechnens zu durchlaufen. Dementsprechend dürftig sind dann auch die
abgeleiteten Maßnahmen (…).“ (Lorenz, 1993, S. 23)
Für mich persönlich ziehe ich daraus folgende Sichtweise:
Rechenschwäche ist eine Lernschwäche, welche meist auf komplexe Ursachenverflechtungen zurückzuführen ist.
Allgemein kann man sagen, dass es sich bei der Teilleistungsschwäche „Dyskalkulie“ um einen Grenzbereich handelt, in dem sich Medizin, Psychologie und Pädagogik überschneiden. (vgl. Milz, S.21)
So kann man mögliche Ursachen in drei Bereiche einteilen:
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Psychisch, emotionale, soziale Ursachen
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Organisch-neurologische Ursachen
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Schulische, didaktische Ursachen